Monat: November 2023

Die Welt spinnt – legt sie auf die Couch!

Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren statt einer Ausblickskolumne aufs kommende Jahr einen fiktiven Rückblick des vor mir liegenden, neuen Jahrs schrieb. Einfach, weil das fertige Jahr wirklich total fertig gewesen war. Ich hatte ja keine Ahnung, was noch kommen sollte, und wir alle noch viel fertiger sein würden. Generell finde ich, dass die Coronajahre 20, 21 richtig friedlich waren. Natürlich nicht für alle, die damals krank waren oder Angehörige verloren haben. Aber die Welt musste sich in Quarantäne begeben, daheim bleiben, es gab keine Terroranschläge, keine Hooligans, keine Messerstechereien vor Clubs. Ach, wie war das schön! Daran denke ich vermehrt, aber auch an das menschliche Unvermögen, sich zu erinnern. Wusch, weg damit. Keinen Gedenktag für die Corona-Toten. In der Schweiz würden sie leicht das gesamte Hallenstadion füllen… Und dass die besagten Jahre ein Verschnaufen war für die Umwelt, für die meisten von uns, weil die Kauferei, die Rennerei nach Fun, die Fliegerei am Boden lag, das ist längst ad acta gelegt. Leiderleider.

Aktuell bekriegen sich traumatisierte Nationen, die eher auf die Couch gehören, statt aufs Schlachtfeld. Nach den Morden in Israel fiel ich während sicher drei Wochen von einem krankhaften Wahn zum Nächsten. Ich sah mich als jüdische Schweizerin bereits mein Köfferli mit dem Allernotwendigsten packen, ich verfiel der Rachsucht, mein Herz war kalt, und ich heulte sicher alle Stunde wieder. Dann boykottierte ich alle News in der Zeitung und im Fernsehen, wollte nur wegschauen. (Was übrigens erstaunlich viele um mich herum tun, was Krieg und Unfrieden für die Anzettelnden sehr bequem macht.) Aber dann sah ich die winzigen Neugeborenen in einem Spital in Gaza, dann sah ich den israelischen Militärsprecher Daniel Hagari, der irgendwo in Begleitung eines CNN-Journalisten durch die Bomben-Trümmer in Gaza robbte, auf zwei, wie ich dachte, skurile Beweisstücke (ein kaputtes Motorrad, ein Stuhl) für Hamas-Präsenz zeigte, und ich dachte: Ist dieser Mann nicht ein studierter Philosoph, also im echten Leben, ist der plötzlich irre geworden? Sollte er, du ich, wir alle nicht innehalten und merken: Gewalt wird nicht durch die Vernichtung von Gewalt beseitigt. Und indem man nach Gründen sucht, um sich zu schlagen. Und Geiseln werden auch nicht unversehrt befreit, indem man die Verschlepper in die Enge treibt. 

Und auch Menschen, die Schreckliches angerichtet haben, sind Menschen, nicht weniger! Sie dürfen nicht zu Monstern degradiert werden, verbal und durch sog. Eliminierung. Es fiel mir also wie Schuppen vor den Augen, ich war und bin froh, dass ich keinen gedanklichen Rachekurs mehr fahren muss. Nur weil ich als jüdischer Mensch immer diese Furcht verspüre. Sie gibt mir, einer Nation nicht das Recht, mit Hass oder Gewalt auf ein Verbrechen zu antworten. Und dadurch die „andere Seite“ zu entmenschlichen.

Deshalb gehören Nationen nicht aufs Schlachtfeld, wo die Menschen irrsinnig werden, sondern auf die Couch, bzw. vor ein fähiges Schiedsgericht, dessen Urteil befolgt werden muss. Das nennt sich, wenn ich mich nicht irre: Die Vereinten Nationen. 

Ich persönlich sehe die Aufgabe der Opferhaltung als total wichtig an. Ja, es war eine Tragödie, dass es den Holocaust gab, aber sich lebenslang als gejagt, eben als Opfer, zu definieren, dauernd nach Bedrohung Ausschau zu halten, bringt einem um den letzten Rest Freude, Humor und Toleranz. Mach Schabbes damit, sagte mein Opa jeweils, wenn er einen zermürbenden Streit beenden wollte. Und dann mussten die Streithähne und -Hennen die Klappe halten und sich die Hände reichen. Für den Frieden. Shalom, oder wie er in vielen Sprachen auch heissen möge.

Foto: Meine gute, alte Couch…

Wer mag, besucht mich hier: http://www.marianneweissberg.ch, schön old school.