Monat: Oktober 2022

Muss man unbedingt zuhören?

Ich sitze an diesem Sonntag, um halb zehn an meinem Schreibtischchen, um endlich wieder einmal Leben in meinen Blog einzuschreiben. Mittlerweile bin ich seit drei Stunden wach, was früher, also sehr viel früher, an einem Wochenende direkt schon unanständig gewesen wäre. Jetzt könnte ich Ihnen gleich von meinem flach gewordenen Schlaf erzählen, dass ich so wie heute lieber tapfer aufstehe, statt mich, weil eben Wochenende, hin und her zu wälzen. Dann wüsste ich auch noch von diesem seltsamen Stechen im rechten Oberbauch zu berichten und überhaupt, es gäbe da noch eine aktuell beängstigend steigende Anzahl von Symptomen. Aber eben, müssen Sie mir da unbedingt zuhören wollen? Ich denke, nein. Aber bei einem Blog fällt sowas ja leicht, man clickt einfach woanders hin. 

Sowas funktioniert aber nicht, wenn mich, sagen wir mal jene Bekannte anruft, deren Mann leider chronisch krank ist. Erst war es nur ihr Fussleiden, zu dem ich auch nur ein „tut mir leid/wie wärs mit diesem Doc?/jenem Medi?“ sagte, doch als ich dann ein paar Wochen später genau dieses Problem an mir beobachtete, wurde ich abergläubisch. Kann man sich am Telefon durch intensives Zuhören anstecken? Es wurde mir also unwohl beim Zuhören, danach dauerte das duuche Gefühl an. Da das Paar ja doppelt krankt, musste ich bald wöchentlich anhören, wie unlösbar alles sei. Doch, sie tun mir leid. Schon, ja, doch. Aber ich kann ES fast nicht mehr hören, deshalb screene ich nun meine Anrufe, erscheint diese oder auch eine andere Nummer, bei denen ich immer die selbe Leidensnummer abhören muss, nehme ich nicht mehr ab. Bis ich ein schlechtes Gewissen habe, und es doch tue. 

Jetzt werden Sie sagen: Gute Güte, sagen Sie doch klar, dass Sie das nicht (mehr) hören wollen. Doch, ich habe sowas letztes Mal sogar gewagt. Aber sowas funktioniert eben nur kurz oder gar nicht: Bald geht es wieder von vorne los, mit den medizinischen Bulletins. Oder aber die andere Seite ist so beleidigt, dass man nie wieder von ihr hört. Was ja erfreulich wäre, wenn die Bekanntschaft/Freundschaft überflüssig oder schlicht blöd ist, aber es gibt ja auch Beziehungen, die man halt seit lange am Leben erhält, so dass sie wie ein gemütliches Wolljäggli sind, das man hie und da gerne überstreift. 

Wie laviert man sich also durch Ansprüche, zuzuhören zu müssen? Bei Dingen, die einem selbst zunehmend belasten? In diesen Zeiten, die ja sowieso beängstigend sind. Ich jedenfalls werde deprimiert und deshalb vergesslich (liegengelassenes Küchenhandtuch auf der heissen Herdplatte…), wenn ich mir bei jedem Telefonat das Demenz-Problem einer Bekannten anhören soll, die ein solches bei einem Familienangehörigen hat. Ich wüsste ja die Lösung: ein gut geführtes Heim suchen, endlich wieder das eigene Leben leben und sich nicht mehr aufopfern. Eine Spezialität von uns Frauen. Sie bedient die Familie, und dann, wenn sie pensioniert ist, tut sie es noch immer, sie kocht weiterhin, kauft ein, wuppt die ganze Administration/das Sozialleben, und wenn der Herr des Hauses krank wird, amtiert sie automatisch als seine Pflegerin. 

Also abklemmen? Ich erinnere mich, dass ein Business-Freund mir vor einigen Monaten einen Schwall von Textnachrichten schickte über seine gloriosen Erfolge. So nach zehn Meldungen (die Jüngeren wollen ja nicht mehr telefonieren, aber überbordende Textnachrichten sind genauso anstrengend), die ich höflich mit „super, toll“ beantwortete, schrieb ich schliesslich: „Übrigens: Liebe Marianne, wie geht es dir…?“

Die Antwort: „Krankheiten von A wie Allergie bis Z wie Zehenbruch interessieren mich nicht.“ Wieso Zehenbruch. Nun ja, ich hatte mir beim Stolpern über ein blödes, niedriges Tischli einen Zehen gebrochen, konnte drum ein paar Wochen nur mit Schmerzen aus dem Haus. Wäre es also nicht nett, ja anständig gewesen, zu schreiben: „Sorry, wie geht es dir aktuell?“ Oder sogar kurz anzurufen? 

Andrerseits, geht es diesem Menschen mit seiner Willichnichthören-Haltung nicht besser? Lebt er nicht gesünder? Oder hat er einfach dermassen Angst vor eigenen Krankheiten, dass er Ansteckung per Textnachricht fürchtet? Oder ist er schlicht ein Hartherz? Man wird es nie erfahren.

Vielleicht muss man einfach ein Mittelmass finden. Ich habe mal die Methode erfunden, bei der jede Seite drei Minuten lang Schlimmes berichten darf, dann wird konsequent Interessanteres diskutiert (Literatur, Serien, Natur, ein gerade aktuelles Projekt, ein bisschen Klatsch). Das funktioniert aber nur bei jenen, die ihr Umfeld nicht als Gratistherapiepraxis verstehen. Bei Letzteren habe ich Folgendes ausprobiert: Ich berichte gnadenlos und ohne Punkt und Komma von den eigenen Symptomen mit den dazu passenden Therapieansätzen, Krankenkassenvergütungen, Docs). Da ich jedoch bloss mit Minimalkrankenkassenmodell versorgt bin, kann ich gar nicht ausufernd mithalten. Nach dem Einhängen grüble ich garantiert herum, wieso ich so eine Vorsorge-Versagerin bin. 

Fazit, bevor es hier zu krank wird: Nehmen Sie sich ernst. Nehmen Sie sich selbst wichtig, aber nicht auf Kosten anderer. Finden Sie den für Sie richtigen Weg. Wo und womit auch immer. Das zeigt mein Homevelo, auf dem ich laut Physio viel und lange trampeln sollte. Wegen des lädierten Knies. Stop, keine Details. Nur soviel: ich trample hie und da und maximal ein paar Minuten, den Rest der Zeit dient das Fitnessding als kommoder Wäschetrockenständer (gibt’s dieses Wort überhaupt). Macht richtig zufrieden, geht nur mich was an…

So, jetzt ruft dann gleich mein Teledoc an, wegen meines Bauchstechens. Bei dem muss ich kein ungutes Gefühl haben, wenn ich ihn volljammere. Danach gehe ich spazieren, schwatze vielleicht mit einer bislang unbekannten Nachbarin über dies und das. So wie gestern passiert, ganz zufällig, auf dem Nachhauseweg. Sie kennt mich nicht, ich sie nicht. Also dieser unbeschwerte Zustand, bei dem niemand zuviel weiss. Meiner Meinung nach die besten Beziehungen. 

Schauen Sie mal bei www.marianneweissberg.ch oder www.vollreif.ch rein. Keine Krenks, wie es auf jiddisch so passend heisst.

Foto: Das praktische Fitnessgerät, daneben sichtbar das Dehn-Theraband, das längst am Büchergestell schrumpelt.